„Ladies and Gentlemen, we had worse…”
Mit diesen aufmunternden Worten und das Ende des Satzes offen lassend, stimmte uns der Meteorologe auf die kommenden 160 km der Genfersee-Umrundung, die „Tour du Léman“ ein.
Während wir, teilweise noch mit Sonnenbrand vom vergangenen Tag, mit einer Mischung aus nervöser Anspannung und erwartungsvoller Vorfreude im sehr schönen Restaurant des noch viel schöneren Genfer Ruderclubs „Société Nautique de Genève“ sitzen und uns auf Wetter von teilweise Sonnenschein bis Regen, Gewitter und starke Böen gefasst machen, rückt der Startschuss am Folgetag immer näher.
Wie jedes Jahr, lief auch die 50. Auflage der Tour du Léman so ab, dass die gesamte Strecke des Genfersees einmal im Uhrzeigersinn durchfahren werden muss. Zur Kontrolle, ob dies auch tatsächlich passiert, sind über dem See mehrere Kontrollbojen verteilt, an denen jeweils ein Begleitboot die Startnummer der teilnehmenden Mannschaften notiert. Gleichzeitig muss von einem Mitfahrenden die Strecke per GPS-Tracking mit dem Handy verfolgt werden.
Wir, das sind Alexander Keller, Tobias Trinkle, Michael Born, Jonas Schmidt (alle vom Marbacher Ruderverein) und ich, Michael Heider (Stuttgarter RG), machen uns also nach der meteorologischen Besprechung auf den Weg in unseren Unterkunftsbunker, in dem alle Teilnehmenden sowie die Begleitpersonen untergebracht sind. Wir hatten den gesamten Tag damit verbracht, unseren gesteuerten Gig-Vierer auf die möglichen Gefahren des Genfersees vorzubereiten. Falls es große Wellen gibt (in der Vergangenheit mussten Teams abbrechen wegen zu viel Wasser im Boot), muss der Bug und das Heck komplett verkleidet und wasserdicht abgeklebt und über die Ausleger Folie gelegt werden, um ein Eindringen von Wasser über die Seiten zu verhindern. Außerdem muss genug Verpflegung für die gesamte Strecke verstaut werden, mehrere Pumpen gegen eindringendes Wasser und ein Mast angebracht werden, an dem eine Leuchte montiert ist sowie ein Radarreflektor.
Als es am Samstag dann endlich um 8 Uhr losgeht und wir mit dem Startschuss begleitet bei leichtem Nieselregen losfahren, wissen wir alle noch nicht so ganz, was uns die kommenden Stunden erwarten wird. Wir befolgen den Ratschlag mehrerer erfahrener Rennteilnehmer und lassen den Start ruhig angehen und halten uns aus dem größten Getümmel raus. Nach kurzer Zeit haben wir auch unseren Platz im Feld gefunden und können bis Nyon unser Tempo, das wir geplant hatten, ohne größere Probleme durchfahren. Zwischen Nyon und Lausanne kristallisiert sich dann aber heraus, dass wir etwas zu ambitioniert planten, und wir müssen etwas reduzieren, weswegen wir ein paar Plätze verlieren. Mit neuem Tempo und guter Dinge stoßen wir ab Lausanne auf die Tücken des Seeruderns: Wellen. Wellen, die die Wellchen, die wir von unserem Neckar kannten, weit in den Schatten stellen und noch immer klein sind für Genfersee Verhältnisse. Wir kämpfen uns aber unbeirrt durch das neue Hindernis und erreichen Rivaz ohne unterzugehen. Das Wetter war währenddessen stets auf unserer Seite, wir können immer im Trockenen fahren und zu diesem Zeitpunkt ist sogar so klar, dass wir bis Villeneuve sehen können! Das motiviert uns, da der Wendepunkt absehbar ist und wir rudern mit neuer Energie geladen weiter. Dass man sehr viel weiter sieht, als auf dem Neckar, und die Strecke sehr viel länger als gedacht ist, merken wir an diesem Punkt das erste, aber nicht das letzte Mal…
Während wir in Villeneuve noch ein kleines Gespräch mit einem anderen Team haben, das mit uns auf einer Höhe ist, passiert bis Evian nicht viel Erwähnenswertes, außer dass unsere Kondition schwindet und wir von einem herrlichen Regenbogen für unsere Halbzeit-Überquerung belohnt werden. Ab Evian, der physische Tiefpunkt unserer Tour, haben wir endlich wieder ein Ziel vor uns, das lohnend klingt: Die so genannte Schweine-Bucht! Denn wenn wir diese erreicht haben, ist es nur noch einmal um die Landzunge bei Yvoire und wir sind auf der Schlussgeraden! Mit frischem Mut bezwingen wir die letzten Buchten, von denen wir denken sie seien die Schweine-Bucht, bis wir schließlich im Dunkeln tatsächlich den Kontrollpunkt bei Sciez erreichen, ein letztes Mal rufen wir unsere Nummer an das entsprechende Begleitboot („Fifteen! Fünfzehn! … ähm Un…Cinque!) sammeln nochmal unsere Kräfte und machen uns auf die letzten Kilometer.
Als wir schließlich denken, wir hätte alles erlebt, was es auf so einer Tour zu erleben gibt, sprich wir könnten unser Ding nach Hause fahren und uns auf unseren Finisher-Champagner freuen, werden wir unsanft daran erinnert, dass wir keine Rundtour aus Spaß fahren, sondern dass wir auf einer Regatta sind! Ein konkurrierendes Boot hat sich im Schutze der Dunkelheit an uns herangepirscht und die schwach leuchtenden Steuer- und Backbord-Markierungen nähern sich uns immer mehr. Wir müssen reagieren und erhöhen sowohl Schlagzahl als auch Kraft und jeder mobilisiert Kräfte, Motivation und Ehrgeiz (schließlich sind wir ja alle Rennruderer und somit auf eine gute Platzierung aus), von denen er denkt, dass er sie spätestens seit Evian nicht mehr hat, und wir schieben unsere „Weserstein“ mit jedem Schlag und gefühlten Kraftakt, der eines eigenen Artikels Wert wäre, Meter um Meter näher an das inzwischen sichtbare Ziel, Genf! Während wir so mit dem konkurrierenden Boot um jeden Meter kämpfen, schieben wir uns langsam an ein weiteres, vor uns liegendes Boot heran und sind schließlich alle drei gleich auf. Spätestens jetzt sind wir wieder alle wach und wollen mehr! Leider bringt der motivierteste Geist nichts, wenn der seit 16 Stunden geschundene Körper nicht mehr geben kann und wir müssen akzeptieren, dass wir unseren Schlusssprint nicht 20km vor dem Ziel hätten einleiten sollen.
Schlussendlich kommen wir nach 16 Stunden und 40 Minuten, um 23 Uhr 50 in Genf an und gelangen auf Platz 16 von 26 teilnehmenden Booten. Damit haben wir uns als komplettes Novizen-Boot ohne jegliche Langstrecken-Erfahrung ins solide Mittelfeld gerudert und sind am abschließenden Tag beim obligatorischen Drei-Gänge-Menu (natürlich inklusive Champagner) überglücklich und sehr stolz auf unsere Leistung. Trotz Schmerzen und zerschundener Hände wissen wir alle: Wir haben uns den „Tour de Léman“ Teilnehmer-Zinnbecher verdient!
Und bevor dieser Bericht endet, noch einen riesigen Dank an Susann Halliger vom Stuttgart Cannstatter RC, die uns über das komplette Wochenende begleitet, für uns gekocht, uns motiviert, die Anspannung genommen, die Autofahrt verkürzt, während der Tour um den See mit dem Fahrrad mitgefahren ist und uns die ganze Zeit angefeuert und uns nur so zu dieser Leistung befähigt hat. Ohne sie wäre das alles nicht möglich gewesen!
Michael Heider